N. Büsser u.a. (Hrsg.): Transnationale Geschichte der Schweiz

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Titel
Transnationale Geschichte der Schweiz. Histoire transnationale de la Suisse.


Reihe
Schweizerisches Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialgeschichte / Annuaire suisse d’histoire économique et sociale (34)
Erschienen
Zürich 2020: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
288 S.
von
André Holenstein, Historisches Institut Universität Bern, Historisches Institut der Universität Bern

Der Sammelband vereinigt Beiträge, die bei Workshops und Tagungen einer Gruppe von Neuzeithistorikerinnen und -historikern 2016 und 2017 präsentiert wurden. Thematisch und konzeptionell im Mittelpunkt dieser Treffen stand die Frage, wie eine transnationale Geschichte der Schweiz anzugehen wäre. Die Gruppe bilanzierte 2017 den Ertrag ihrer Bemühungen selbst mit dem Vorschlag, eine solche Geschichte sei «entlang dreier Achsen anzugehen: die Präsenz der Schweiz, ihrer BewohnerInnen, ihrer Güter und ihres Kapitals in allen Ecken der Welt; die kritische Bewertung des Sonderfalls; und schliesslich das Potenzial dieser Ansätze im Sinne von ‹jeux d’échelles› (Skalenspielen).» (S. 10).

Dieses Konzept verrät mit der stillschweigenden Annahme der Existenz eines staatlichen Gebildes namens «Schweiz» zum einen, dass die Mitglieder der Gruppe – die im Übrigen nur teilweise mit den Herausgeberinnen und Herausgebern des Bandes identisch sind – überwiegend zum 19. bis 21. Jahrhundert geforscht haben. Und es legt zum andern die thematischen und chronologischen Schwerpunkte eines Sammelbandes offen, der mit ganz wenigen Ausnahmen Forschungen zur neuesten und Zeitgeschichte präsentiert.

Ganz allgemein eint die thematisch sehr heterogenen Beiträge des Bandes die Überzeugung, «dass Ansätze, die sich ausschliesslich auf das winzige helvetische Territorium beschränken, im Erkenntnisgewinn begrenzt sind». Sie «situieren die Schweiz in ihren transnationalen Verbindungen, um die Entwicklung dieses Raumes zu verstehen. [...] Die Beiträge zeigen die Beziehungen der Schweizer AkteurInnen zu den Grossmächten, die schweizerische Präsenz in aussereuropäischen Ländern und die Notwendigkeit, die Zirkulation von Gütern, Kapital, kulturellen Praktiken, Ideen und Menschen in Abhängigkeit voneinander zu untersuchen.» (S. 11).

Die thematischen Schwerpunkte der Beiträge überraschen denn auch nicht und lassen sich konzeptionell den verschiedenen Ausprägungen eines Forschungsansatzes zuordnen, der ja weniger eine neue Methode, ein neuer «turn» sein, sondern vielmehr mit der Fokussierung von «Beziehungen, Verbindungen, Kontakte[n] und Austauschprozesse[n] von Personen, Dingen und Ideen zwischen Staaten, Kulturen und Kontinenten» (S. 159; siehe auch S. 226) eine neue Perspektive ins Spiel bringen will.

Alexandre Fontaine zeigt, wie die Konzepte und Praktiken der Freiburger Schulbildung im 19. Jahrhundert im Rahmen eines grenzüberschreitenden Transfers von Wissen entstanden. Christian Koller erkennt in den Praktiken und in der Beurteilung von Streikbewegungen in der Schweiz zwischen 1860 und 1930 mannigfaltige Einflüsse von aussen. Cyril Cordoba interessiert sich für die Rolle der Schweiz als Plattform für die Propagierung des Maoismus in den 1950er und 1960er Jahren. Roman Wild untersucht die Bedeutung New Yorks als Drehscheibe für die Schweizer Seidenindustrie und den Seidenhandel. Pietro Nosetti beleuchtet den Aufstieg des Tessiner Bankensektors im Hinblick auf die zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen der Schweiz und Italien in der Zwischenkriegszeit. Isabelle Lucas erhellt den Anteil von Schweizer Unternehmern und Kaufleuten am Aufstieg von Buenos Aires zur Wirtschaftsmetropole Lateinamerikas zwischen 1891 und 1937. Jérémy Ducros legt den Zusammenhang zwischen dem Wachstum der Genfer Börse und der Internationalisierung der Börsenmärkte in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg offen. Marcel Brengard untersucht die Umstände, unter denen der Schweizer Elektrokonzern BBC Anfang der 1960er-Jahre in Nigeria in die Energieproduktion einstieg. Mit dem einzigen in die Zeit vor 1800 zurückreichenden Beitrag liefert Andreas Würgler eine Skizze der Geschichte des Buchdrucks in der Schweiz in transnationaler Perspektive und unterstreicht, wie stark dieses Gewerbe von der Zirkulation von Akteuren, Texten und Wissensbeständen und von grenzüberschreitenden Distributionsund Rezeptionskanälen lebte. Fernanda Gallo zeigt, wie stark das italienische Risorgimento von italienischen Übersetzungen gewisser Schriften von Benjamin Constant beeinflusst war, die die Druckerei Capolago Elvetica in Lugano herausbrachte. Alexandra Binnenkade beleuchtet mit den Schweizer Soldaten im amerikanischen Bürgerkrieg 1861–1865 ein wenig bekanntes Kapitel der Geschichte der schweizerischen militärischen Arbeitsmigration. Muriel Willi schliesslich beleuchtet diverse kulturdiplomatische und tourismusindustrielle Bemühungen, Luzern als «Plattform der internationalen Völkerverständigung und als humanitäres Zentrum zu positionieren.» (S. 16).

Mit der bezeichnenden Ausnahme des Beitrags von Andreas Würgler, der – über sein eigentliches Thema hinausgehend – die Brauchbarkeit und Angemessenheit des Labels «transnational» für die Analyse der Epoche vor dem Nationalstaat des 19. Jahrhunderts reflektiert (und diese durchaus bejaht), bewegen sich all diese Beiträge im Rahmen von Fallstudien zu ihren jeweiligen Themen, ohne sich vertiefter mit dem Konzept der transnationalen Geschichte auseinanderzusetzen. Umso dankbarer ist der Leser für die Entscheidung der Herausgeberinnen und Herausgeber, dem Band noch Beiträge hinzugefügt zu haben, welche die Implikationen einer transnationalen Geschichte der Schweiz stärker theoretisch und methodologisch reflektieren. Jakob Tanner stellt die besonderen Herausforderungen des transnationalen Ansatzes heraus: Er muss erstens «die vielfältigen Wechselwirkungen – die Synergien ebenso wie die Blockierungen – zwischen dem föderalistisch strukturierten schweizerischen Staatswesen, den Weltmärkten sowie der europäischen Wirtschaft und Gesellschaft verständlich» (S. 231) machen. Er fordert von den Historikerinnen und Historikern zweitens neue Forschungspraktiken, die markante Ausweitung der Quellengrundlage und die notwendigen Sprachkompetenzen, sowie drittens die Historisierung des «Kompositums ‹transnational›». Gerade in dieser Hinsicht wird Tanner aber seinem Anspruch nicht gerecht, bleibt er doch einem modernistischen Konzept der Nation als Nationalstaat verhaftet. «Das Attribut ‹transnational› ist paradox, weil es Nationen als Beobachtungsfelder voraussetzt und sie gleichzeitig relativiert und in grössere Zusammenhänge rückt. Dadurch verliert der Nationalstaat seine Kontur.» (S. 225, Hervorhebungen AH). Diese durchaus geläufige Ineinssetzung von Nation und Nationalstaat – bisweilen gepaart mit der «Annahme, eine transnationale Geschichte vor der Epoche des Nationalstaates (19./20. Jahrhundert) sei anachronistisch» (S. 168) – stellt Andreas Würgler in seinem Beitrag zu Recht in Frage und weist unter anderem auf die markanten Artikulationen eines frühen Nationalismus im Zeitalter des Humanismus und der Reformation hin.

Im Hinblick auf eine transnationale Konzipierung der Schweizer Geschichte in den Jahrhunderten vor 1800 sind Simon Teuschers Überlegungen in mehrfacher Hinsicht wertvoll. In historiographiegeschichtlicher Hinsicht erinnert Teuscher daran, wie sehr die Geschichtsschreibung zur Schweiz «seit dem Mittelalter in paradigmatischer Weise nationalistisch» (S. 238) gewesen, das heisst auf einen Raum begrenzt geblieben sei, der erst im Verlauf eines langen Prozesses bis ins frühe 19. Jahrhundert «schweizerisch» wurde. Insofern eignet dem Ansatz des Transnationalen auch eine historiographiekritische Komponente, welche auf die Leerstellen und Sackgassen der traditionellen Nationalgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts aufmerksam macht. Teuscher plädiert darüber hinaus für eine konsequente Historisierung der politischen Raumordnungen im Corpus helveticum des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit und unterlegt seinen Vorschlag mit überzeugenden Fallgeschichten. Damit besetzt Teuscher zumindest ansatzweise jene Leerstelle im Band, auf die Thomas Maissen in seiner Rezension des Sammelbandes – grundsätzlich zu Recht, zu Unrecht aber in Bezug auf den Beitrag von Teuscher – hinwies: Erstaunlicherweise wird nämlich im Band nirgendwo der «nationalgeschichtliche Container dort infrage gestellt oder gesprengt [...], wo seine Engführungen offensichtlich sind: im Politischen, im Staatlichen.»1 Teuscher optiert für eine unvoreingenommene Geschichte der Vormoderne, die der «Vielzahl der uns fremd gewordenen räumlichen Ordnungen des Politischen» gerecht wird. Von hier aus liesse sich diese Geschichte konzipieren und beschreiben als langfristiger Prozess der Einbindung herrschaftlicher Entitäten in einen übergreifenden politischen Zusammenhang, der erst allmählich als eidgenössisch-schweizerisch wahrgenommen und bezeichnet wurde. Der einschlägige Vorschlag des Rezensenten blieb den Beiträgern dieses Bandes offenbar unbekannt.2

1 Thomas Maissen, Rezension zu «Transnationale Geschichte der Schweiz. Histoire transnationale de la Suisse», in: Francia recensio, 2020/3; online unter: www.recensio.net/rezensionen/zeitschriften/francia-recensio/2020-3/19-21-jahrhundert-epoque-contemporaine/ReviewMonograph208072643 (8. 10. 2021)
2 André Holenstein, Transnationale Schweizer Nationalgeschichte: Widerspruch in sich oder Erweiterung der Perspektiven?, in: Swiss Academies Communications 13/6, 2018, online unter: www.sagw.ch/fileadmin/redaktion_sagw/dokumente/Publikationen/Akademievortraege/Akademievor trag_28_Holenstein.pdf (22. 11. 2021)

Zitierweise:
Holenstein, André: Rezension zu: Büsser, Nathalie; David, Thomas; Eichenberger, Pierre; Haller, Lea; Tobias, Straumann; Wirth, Christa (Hg.): Transnationale Geschichte der Schweiz. Histoire transnationale de la Suisse, Zürich 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (2), 2022, S. 285-288. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00108>.